A³ - auf dem Weg zu einem erwachsenen, stotterfreien Leben
- von Thomas Friedrich Spemann (Psychotherapeut HPG)
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- 03 Apr., 2018
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Gibt es Parallelen zwischen erwachsenen Stotterern und Hochsensiblen?
Die Arbeit mit Hochbegabten und Hochsensiblen gehört zu meinem Arbeitsspektrum als Coach und Psychotherapeut (HPG).
Vor Kurzem besuchte ich mit meiner Frau einen Stammtisch für Hochsensible. Wir sind beide Zertifizierte Mediatoren, Wirtschaftswissenschaftlerin und Jurist, hochsensibel und hochbegabt.
Hochsensible nehmen manche Dinge genauer, empfinden manche Sinneswahrnehmungen differenzierter. Der Übergang zur „Persönlichkeitsstörung“ dürfte fließend sein. Bei Menschen mit einer sog. Persönlichkeitsstörung „findet man (…) gegenüber der Mehrheit der betreffenden Bevölkerung deutliche Abweichungen im Wahrnehmen, Denken, Fühlen und in Beziehungen zu anderen. Solche Verhaltensmuster sind meistens stabil und beziehen sich auf vielfältige Bereiche von Verhalten und psychischen Funktionen. Häufig gehen sie mit persönlichem Leiden und gestörter sozialer Funktions- und Leistungsfähigkeit einher.“ (Dilling u.a. (Hrsg.), „ICD-10 Internationale Klassifikation psychischer Störungen“, Bern, 10. Auflage 2015, S. 274). Merke: dies ist eine Definition aus der Sicht der überwiegenden Mehrheit, die willkürlich als psychisch gesund definiert ist.
Da saßen wir also nun zu acht Personen, Männer und Frauen unterschiedlichen Alters, an einem Frühlingsabend in einem kleinen Restaurant und stellten uns gegenseitig vor. Die Teilnehmer[1] gingen sehr höflich miteinander um. Alle ließen sich aussprechen und hörten zu. Dies fiel mir zunächst angenehm auf. Inhaltlich schilderten die einzelnen Personen bestimmte eigene Erlebnisse mit ihrer individuellen Hochsensibilität. Und es ging tatsächlich immer um eine deutliche Abweichung im Wahrnehmen, Denken, Fühlen, insbesondere um eine höhere Empfindlichkeit. Als seien die Sensitivitätssensoren der hier anwesenden Hochsensiblen in einem oder mehrerer ihrer sechs Sinne höher eingeregelt. Die meisten der Anwesenden konnten Lärm nur sehr wenig und nicht sehr lange ertragen, beispielsweise in Diskotheken. Manchen waren olfaktorisch hochsensibel, diesen Menschen sind starke Parfümierungen physisch kaum erträglich, starke Parfümierungen bedeuten praktisch eine Körperverletzung für diese hochsensiblen Menschen.
Ich frage mich: Gibt es hier eine Parallele zu erwachsenen Stotterern, also Stotterern, die ihr anfängliches, kindliches Stottern ausnahmsweise nicht verloren haben? Die meisten Kinder, die zwischen 3 und 9 Jahren stottern, verlieren ihr Stottern irgendwann zu Beginn oder im Laufe der ersten Schuljahre. Die Schulpsychologie spricht von Spontanremission, d.h. keiner kann erklären, wieso die Kinder irgendwann aufhören zu stottern.
· Könnte es sein, dass die erwachsenen Stotterer sensibler waren als der andere, wesentlich größere Teil der Kinder, die zunächst ein paar Jahre stotterten und dieses dann noch vor der Pubertät ablegten?
· Könnte es sein, dass der wesentliche Teil der zunächst stotternden Kinder ausreichend, jedoch deutlich weniger sensibel ist und deshalb sich in der Grundschule besser integrieren kann?
· Könnte es sein, dass durch diese bessere Integration ihr Selbstbewusstsein steigt und es dadurch zu einer frühen, größeren kindlichen Authentizität kommt – und damit zu einer „Spontanremission“ des Stotterns?
Was war zuerst da: Das Huhn oder das Ei. Stotterer achten noch mehr auf die Umgebung, ob sie wieder etwas falsch machen oder die Gefahr des gehänselt werden besteht? Deswegen auch alle Sinne nach außen gerichtet? Oder sind sie so sensibel und bemerken externe Einflüsse, die sie „von sich selbst ablenken“, so dass sie gar nicht bei sich sein können und sich selbst etwas Gutes tun können, d.h. auf sich aufpassen können und sich „energetisch“ schützen?
Aus den Schilderungen der Teilnehmer an dem Hochsensiblen – Stammtisch ergab sich, dass alle Beteiligten im Umgang mit ihrer überdurchschnittlichen Sensibilität gelernt haben, achtsam mit sich umzugehen, sich angemessen abzugrenzen und aufmerksam mit sich und anderen zu sein. Diese hochsensiblen Menschen haben zumindest eine höhere Sensibilität, anderen haben eine höhere Intelligenz, manchen haben beides, sind also irgendwie aus der Sicht der durchschnittlichen Mehrheit „doppelt“ behindert und, im Extremfall, psychisch und/oder physisch rascher krank.
Für den hochsensiblen Menschen geht darum, sich zu akzeptieren mit seinen Eigenheiten. Alles dies benötigt auch der erwachsene Stotterer, um sein Stottern zu verlieren. Dies ist ein Teil des Wegs, bei dem ich sowohl hochsensiblen Menschen als auch erwachsenen Stotterern helfe, authentischer leben zu lernen.
· Achtsam
· Abgrenzend
· Aufmerksam
A³: Die drei A gelten sowohl für Hochsensible als auch für Stotterer, wobei ich nicht sagen kann, ob es eine 100%ige Überdeckung der Teilmengen gibt. Ich halte es für möglich.
Zu guter Letzt: Einer der Teilnehmer, der darüber berichtete, dass er immer auf die anderen achte und auf deren Belange einginge, erzählte, dass auf ihn nicht geachtet würde; er würde übergangen und sogar von Gruppen deswegen ausgegrenzt. Er beschrieb, dass er diese anderen Menschen als „primitiv“ empfindet.
· Könnte es sein, dass nicht die Hochsensiblen gestört sind, sondern im Gegenteil die große Mehrheit der „Klötze“ unter uns Menschen?

